Vollmond über der Großstadt

Full Moon Moscow
Eine Nacht in Moskau: Die Bar tobt, während draußen ein Mädchen auf der Schwelle zum Tod steht. Drinnen zerbricht eine Verlobung nach einem Seitensprung auf der Clubtoilette, und ein tödlicher Unfall wirft einen dunklen Schatten über den Morgen. Während die Stadt langsam erwacht, trägt der Erzähler die Last der Ereignisse – eine Mischung aus Hilflosigkeit, Schuld und der harten Realität des Lebens. Manche Geschichten enden im Krankenhaus, andere mit der Polizei an der Tür. Es war eine Vollmondnacht – keine besondere, nur eine, die man nicht vergessen wird.

Es wird langsam hell. Mein Taxifahrer fährt gemütlich und scheint es nicht eilig zu haben. Die Digitaluhr in der Mitte des Wagens zeigt 5:57 an. Moskaus Straßen sind leer. Ich habe ihn gebeten, das Radio auszuschalten, denn ich brauche ein bisschen Ruhe. Ich will den Abend noch einmal Revue passieren lassen. Wie jeden Freitag war ich um neun Uhr in der Wall Street Bar. Der Besitzer und ich sprechen noch die letzten Details für den Abend durch. Ich begrüße die Angestellten. Meine DJs beginnen mit dem Warm-up. Dem Anschein nach wird es ein ganz normaler Abend.

Zwei Stunden später bekomme ich einen Anruf. Eine Bekannte steht vor der Tür und kommt nicht rein. Ich schiebe mich an den Gästen und den Türstehern vorbei. Draußen steht das Mädchen. Wir kennen uns erst ein paar Wochen. Sie kommt regelmäßig auf meine Partys, und ich mag sie. Wir haben hin und wieder im Internet gechattet und auch schon einen Kaffee zusammen getrunken. Heute ist sie ein wenig betrunken, und die Türsteher wollen sie nicht reinlassen. Ich versuche, sie reinzuholen, aber blöderweise ist an diesem Abend auch der Besitzer des Ladens, ein schwerreicher Russe, in der Bar. Die Türsteher winken ab.

„Da kann ich nichts machen“, sage ich ihr. Sie ist enttäuscht, bittet mich, sie reinzulassen. Ihr Make-up ist heute ein wenig seltsam. Nach einer Weile kullert ihr eine Träne aus den Augen. „Es tut mir leid, aber du bist eben nicht in einem guten Zustand.“ Mir dämmert, dass sie vielleicht auch Drogen genommen hat. Die Türsteher haben leider recht. „Komm, am besten gehst du nach Hause“, sage ich. „Ich besorge dir ein Taxi und zahle es auch.“ Sie ist widerwillig, steigt dann aber ein und fährt. Ich stehe im T-Shirt in der Kälte und sehe ihrem Taxi nach. Seltsame Nacht, denke ich und schiebe mich an den Wartenden vorbei zurück in die Bar.

Drinnen tobt der Bär wie jeden Freitag. Meine DJs heizen den Leuten kräftig ein. Ein Mädchen steigt auf einen der Lautsprecher und tanzt. Dabei wackeln ihre Brüste fast aus dem tiefen Ausschnitt. Der Besitzer sitzt an seinem Tisch und winkt zufrieden herüber. Kurz danach gehe ich in den VIP-Bereich. Dort gibt es eine Toilette, an der man nicht anstehen muss.

„Wo kommst du her?“, fragen drei Jungs, die am Waschbecken stehen.

„Deutschland“, antworte ich, und sie brechen in Jubel aus.

„Wir sind Russen, leben aber in Stuttgart. Ich habe mir gerade eine E-Klasse gekauft“, meint einer.

„Toll“, antworte ich. „Porsche finde ich besser.“

Die drei Jungs sind Mitte zwanzig. „Hm, vielleicht ein Cayenne. Ich habe schon Familie und Kinder“, meint einer. Ich nicke. Die Jungs erzählen mir, dass sie den Geburtstag ihres Freundes feiern. Ich komme mit an ihren Tisch und kippe einen Wodka auf sein Wohl. Sie haben eine gute Zeit, das ist das Wichtigste. Wenigstens sind das nicht die fetten Alten, die allein mit drei bis vier Playmates am Tisch sitzen. Das hier sind coole Jungs. Eine neue Generation Russen. Solche Leute mag ich, denke ich, als ich weiterziehe.

Mein Handy klingelt. Kommt wieder jemand nicht rein? Es ist das Mädchen von vorhin. „Ich bin nun zu Hause“, sagt sie. „Ich wollte nur Tschüss sagen. Ich habe mir gerade 18 Schlaftabletten eingeworfen und werde hoffentlich nie wieder aufwachen.“

„Bist du wahnsinnig?“, schreie ich ins Telefon. „Mädchen, steck dir den Finger in den Mund und kotz!“ Sie legt auf. Ich weiß nicht mal, wo sie wohnt.

Fünf Minuten später klingelt mein Telefon wieder. Sie ist dran. Ich gehe vor die Tür. Es ist kalt, ich stehe im T-Shirt auf der Straße, rede erst beruhigend auf sie ein, dann mache ich Druck. Es nützt nichts. Während ich mit ihr rede, sehe ich durch die Scheiben, wie die Leute drinnen tanzen. Vor der Tür ist immer noch eine Schlange. Zwei supergestylte langbeinige Russinnen schauen mich vorwurfsvoll an. Sie stehen an, wollen rein und Spaß haben. Ich laufe nervös auf und ab und scheine keine gute Zeit zu haben.

Achtzehn Schlaftabletten, frage ich mich. Reicht das, um sich umzubringen? Wer weiß, was sie vorher noch eingeworfen hat. Oft sind solche Drohungen nur ein Hilferuf. Macht sie ernst oder blufft sie? Kann ich helfen? Will ich helfen? Will ich mir das antun? Ich kenne das Mädchen doch gar nicht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in so einer Situation bin. Ich bitte sie, zu kotzen, sich dann schlafen zu legen und sage, dass wir morgen über alles in Ruhe reden werden. Sie weint und meint, dass es kein Morgen mehr für sie geben wird.

Der Laden ist voll, und der Besitzer grinst mich an. Einer meiner DJs steht neben mir. Ich kann nicht zurückgrinsen. Was mache ich jetzt? Meint sie es ernst? Ich erzähle meinem DJ die Geschichte, aber er versteht nur die Hälfte, und überhaupt ist alles recht wirr. Also suche ich P. Sie hat vorhin von P. am Telefon gesprochen. Als ich ihn finde und ihm vom Telefonat erzähle, verfinstert sich seine Mine. „Ich muss dort hin, ihr helfen.“ P. kennt das Mädchen so lange wie ich, scheint aber mehr Zeit mit ihr verbracht zu haben.

„Du bist doch nicht verantwortlich“, sage ich zu ihm. „Ich denke, sie blufft nur.“

„Das Risiko kann ich nicht eingehen“, antwortet er und macht sich auf den Weg. Andreas fährt mit ihm.

Es ist Zeit für einen Drink. Ich brauche einen Wodka-Shot. Danach drehe ich meine Runde, rede belangloses Zeug und mache Smalltalk mit meinen Gästen. Im VIP-Raum finde ich zwei der drei Stuttgarter Russen an der Bar. Ihre Gesichter sind finster.

„Was ist los?“, frage ich.

„Ach, es geht um unseren Freund. Das Geburtstagskind. Seine Verlobte hat ihn gerade beim Sex mit einer anderen auf der Toilette erwischt. Wir haben alles mit angesehen, wussten es. Sie kam zu uns und hat nach ihm gesucht. Als sie auf die Toilette wollte, haben wir ihr davon abgeraten. Sie ging trotzdem.“

„Und jetzt?“ Sie zeigen auf den Tisch, an dem vorhin noch das Leben tobte. Jetzt ist der Tisch geteilt.

An einem Ende sitzt ein sehr hübsches, weinendes Mädchen mit verlaufenem Make-up. Um sie herum stehen andere Mädels und trösten sie. Am anderen Ende des Tisches sitzt der Übeltäter. Allein. Er starrt apathisch vor sich hin. Seine Freunde sitzen mit mir an der Bar.

„Drei Wodka-Shots bitte, geht auf meine Rechnung“, sage ich zum Barkeeper. Danach rate ich den Jungs, sich um ihren Freund zu kümmern. Am Partytisch herrscht Eiszeit.

Langsam leert sich die Bar. Der Besitzer steht neben mir. Er ist zufrieden. Ich bestelle eine Runde Drinks. Es geht gegen Ende, und nun darf ich mich auch abschießen. „Das war ein seltsamer Abend“, sage ich, spare ihm aber die Details. Wir trinken noch einen. Kurz danach kommen P. und Andreas durch die Tür.

„Und? Wie ist es gelaufen?“, frage ich. „War es ernst?“

„Wir haben einen Krankenwagen gerufen, und man hat ihr den Magen ausgepumpt. Jetzt ist sie im Krankenhaus.“

Mann, oh Mann. Wir stehen wortlos an der Bar. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Ich bringe eine Freundin nach Hause. Sie will, dass ich bei ihr bleibe. Ich kann aber nicht, denn meine Freundin wartet auf mich. Mein Taxi fährt weiter. Es ist Viertel vor sechs in der Früh, als der Fahrer das Radio ausmacht. Wir fahren ganz langsam an einem Unfall vorbei. Man kann nicht mehr erkennen, was für ein Auto es war. Ich denke, ein Sportwagen. Grün-Metallic glänzt hier und da noch durch, aber viel sieht man vom Lack nicht mehr. Auf dem Bürgersteig liegen drei total zerpflückte Knöllchen Metall. Hier und da ragt ein Reifen heraus. An einer Stelle das Lenkrad. Das kann keiner überlebt haben. So etwas habe ich noch nie gesehen. Schon gar nicht in der Stadt. Ich frage mich, wie schnell man gegen eine Mauer oder ein Hindernis fahren muss, um sein Auto so zu zerstören und in drei Teile zu reißen.

Wir fahren durch den Morgen. Es wird langsam hell. Es war eine Vollmondnacht. Wahrscheinlich gar keine besondere Nacht. Es ist immer so in Moskau und jeder anderen Großstadt auf der Welt. Man sieht es nur nicht. Ganz ehrlich, ich will es auch nicht sehen.

Als wir über den Fluss fahren, gehen die Straßenlaternen aus. Es wird ein schöner Frühlingstag werden. Mit Sonne und Wärme. Nicht für jeden. Das Mädchen wird im Krankenhaus aufwachen. Sie wird sich wahrscheinlich fragen, was letzte Nacht passiert ist, und sich vielleicht ein bisschen schämen. Die zwei Verlobten werden getrennt aufwachen. Er trank zu viel und hat sich vom Zauber der Nacht und dieser Stadt mitreißen lassen. Jetzt ist es zu spät. Die Beziehung ist zerbrochen. Sie wird bei ihrer Freundin auf der Couch aufwachen und nicht mehr wissen, wo sie im Leben steht, was sie nun tun soll. Sie wird traurig sein, aber auch Wut im Bauch haben. Immer wieder stellt sie sich die eine Frage: Wie kann er all die Jahre einfach so wegwerfen? Für eine schnelle Nummer auf der Toilette einer Bar mit einem Flittchen, das er gerade erst kennengelernt hat.

Anderswo wird es an der Tür klingeln. Davor stehen zwei Polizisten. Sie werden den Eltern sagen, dass ihre Tochter zu einem betrunkenen Millionär ins Auto stieg und sie nun tot ist. Die Mutter wird heulen. Sie war doch gerade erst achtzehn und so hübsch. Sie hatte das ganze Leben noch vor sich, und nun ist es vorbei.

Ich bin gleich zu Hause. Ich werde einen Joint rauchen und dann zu meiner Freundin ins Bett kriechen. Mir werden die Augen zufallen, und wenn ich mittags aufwache, dann wird alles unreal sein. Als wäre es ein schlechter Traum gewesen. Auch ich werde einen schweren Kopf haben. Es ist nicht der Wodka. Auch nicht der Joint. Es ist die Realität, die mir so zu schaffen macht.

Photo by Anna Frizen on Unsplash

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