Die Moskauer Vorstadt an einem regnerischen Abend. 2006
Lena ist 30, Koreanerin und lebt als Prostituierte in Moskau. In einem offenen Gespräch erzählt sie von ihrem Weg aus Nordkorea über Südrussland in die Hauptstadt, von teuren Mieten, prekären Jobs – und warum sie sich bewusst für ein Leben als „Bandit“ entschieden hat. Zwischen Cafés, Freiern, Immobilienplänen und dem Traum von Spanien wird klar: Lena ist keine naive Figur, sondern eine reflektierte Frau, die ihr Leben in die Hand nimmt – mit allen Risiken, Hoffnungen und Widersprüchen.

Lena ist 30 und Koreanerin. Sie wurde im kommunistischen Nordkorea geboren, und ihre Eltern wanderten kurz danach in die Sowjetunion aus. Lena ist danach in einer kleinen Stadt im Süden Russlands am Meer aufgewachsen. Sie liebt das Meer, sagt sie und grinst. Zuhause gab es keine Arbeit, und so zog Lena – wie so viele – nach Moskau, um dort Arbeit zu finden und den Wohlstand zu erleben.

Sie arbeitete erst als Sekretärin, doch die Mieten und das Leben in Moskau sind teuer. Freundinnen von ihr sind „Bandits“ – so nennen sich die Prostituierten hier – und führten sie in den Nebenjob ein. Später hat Lena ihren Job verloren und ist voll in die Prostitution eingestiegen. Sie tingelt jede Nacht in einen anderen Club, auf der Suche nach Männern, die für Sex bezahlen.

Allein in Moskau gibt’s geschätzt 150.000 Prostituierte. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch viel höher. Das Leben hier ist teuer, und selbst wenn die Mädchen in den neuen Mittelklasse-Jobs genug für ihren Unterhalt verdienen könnten, so ist der Zugang zur neuen Luxuswelt der Nightclubs, Restaurants, Boutiquen und Nobelkaufhäuser Moskaus für sie unbezahlbar. Durchschnittlich macht ein Mädchen zwischen 150 und 200 Dollar pro Freier. Einen Teil davon muss sie an ein Netzwerk, einen Zuhälter oder einen Club abgeben. Einen anderen Teil an die Polizei, damit diese ein Auge zudrückt – denn Prostitution ist in Russland illegal.

Bestürzend ist eine Umfrage, nach der jedes achte Schulmädchen im Alter von 10 bis 16 „Call-Girl“ als Traumjob angibt. Nicht etwa, um sich Essen oder die Miete zu verdienen, sondern damit sie sich die Dolce-&-Gabbana-Jeans leisten können.

Wenn die Sonne untergeht, dann geht Lena in einen Club oder setzt sich in ein Café. Sie lächelt die Männer an und hofft, ins Gespräch zu kommen. Schnell ist der Preis verhandelt, und es geht im Taxi zum Freier nach Hause. Ob sie keine Angst hat und schon mal etwas Schlechtes erlebt hat, frage ich sie. Lena spuckt dreimal in die Luft – ein Zeichen für Glück in Russland – und erzählt mir, dass sie bis jetzt immer Glück hatte und es glatt lief. Natürlich gibt es schon mal den ein oder anderen Betrunkenen oder auch mal Ärger, aber meistens lässt sich das friedlich lösen.

„Ich schaue mir die Leute vorher schon genau an und suche mir aus, mit wem ich nach Hause gehe. Außerdem habe ich meine Freundinnen, die regelmäßig per Telefon nach mir schauen.“

Lena ist eine Ausnahme. Sie ist kein „Bandit“ geworden, um sich teure Klamotten kaufen zu können, sondern sie unterstützt mit dem Geld ihre Familie im Süden Russlands und spart eine Menge. Sie hat überlegt, ob sie sich eine Wohnung in Moskau als Anlageobjekt kaufen soll, sagt sie stolz, aber die Preise in Moskau sind zu hoch. Sie will lieber in Europa investieren. Ein Restaurant an der Küste in Spanien oder ein Hotel in Kroatien könnte man schon günstig bekommen, und sie plant, eines zu kaufen.

„Spanien ist mein Traumland“, fügt sie hinzu.

Überhaupt macht Lena einen intelligenten Eindruck. Sie spricht gut Deutsch und scheint sich mit Kosten und Preisen in den verschiedenen Immobilienmärkten auszukennen. Sie erzählt mir etwas von den Quadratmeterpreisen in bestimmten Gegenden Moskaus und vergleicht sie mit Spanien und Kroatien.

„Nein, ich wäre dumm, wenn ich hier etwas kaufen würde. In zwei Jahren bricht der Moskauer Immobilienmarkt ohnehin zusammen, weil er maßlos überbewertet ist“, meint Lena.

„Macht dir dein Job Spaß?“, frage ich und schiebe noch ein „Ja, ich weiß, das ist eine blöde Frage“ hinterher.

„Weißt du“, sagt sie, „ich treffe viele Leute, lerne eine Menge fürs Leben, und um ganz ehrlich zu sein – mir macht Sex auch Spaß.“

„Findest du etwas Verwerfliches daran?“, frage ich.

Mittlerweile gehören „Bandits“ zum Leben in Moskau. Ein russischer Mann hat zu Hause seine Frau am Herd und kann sich so viele Mädchen nebenher nehmen, wie er sich leisten kann. Von den Ausländern mal ganz zu schweigen.

„Viele von den Männern, die ich mir aussuche, gefallen mir auch. Ich würde vielleicht ohnehin mit ihnen ins Bett gehen, aber so mache ich Geld damit und kann mein Leben und meine Situation verbessern. Ich habe sonst keine Aussichten im Leben. Nur schade, dass ich viele dieser Männer dann nie wieder sehe oder eben nur eine geschäftliche Beziehung zu ihnen habe.“

„Hm, ist das nicht ein bisschen schizophren?“, frage ich.

„Vielleicht. Aber ich habe ja keine Wahl“, antwortet Lena.

„Suchst du noch nach einem Job als Sekretärin?“, ist meine nächste Frage.

Lena lacht. „Nein. Als Sekretärin verdiene ich zwischen 300 und 400 Dollar im Monat. Als ‚Bandit‘ kann ich 1500 Dollar und mehr im Monat machen.“

Ich wünsche Lena zum Abschied viel Glück. Das kann sie gebrauchen. HIV, Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten sind stark auf dem Vormarsch. Viele der Freier benutzen nicht gerne Kondome. So wird der Nebenjob zum russischen Roulette. Aber vielleicht auch zum Ausstieg aus Russland und einem Neustart woanders. Immerhin hat Lena es schon weit geschafft – vom armen Nordkorea nach Südrussland und dann nach Moskau. Vielleicht schafft sie es auch nach Spanien und lässt ihr Leben in Russland hinter sich. Vielleicht macht sie ihr neuer „Job“ kaputt.

Russland bietet derzeit viele Chancen. Die Wirtschaft wächst, und der Mittelstand entwickelt sich schnell. Doch Chancen gibt es nur für Leute mit der richtigen Ausbildung oder den Verbindungen zu den Seilschaften, die das Land regieren. Als einfaches Mädchen – und speziell vom Land – ist man chancenlos.

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