Socks
Andrey, Manager eines der besten Designstudios Russlands, wäre wohl lieber DJ, doch das zahlt weder den neuen Mercedes noch seine Rechnungen. Bei unseren „Kitchen Sessions“ steht er meist konzentriert am Mixer, während wir über Business, Partys und Politik reden. Als der aggressive Nachbar in Unterhosen vor der Tür auftaucht, wird es kurz turbulent. Später finde ich unter dem Tisch eine graue, stinkende Socke, die mir seltsam vertraut vorkommt. Zuhause wird mir klar: Es war meine Socke, die wohl im Hosenbein steckte – jetzt entsorgt. Ein peinlicher Moment, der dennoch ein Lächeln hinterlässt.

Von Küchenpartys, stinkenden Socken und Moskaus neuen Kreativen.

Wir sitzen bei Andrey in der Küche. Andrey ist Manager im besten Designstudio Russlands. Alle paar Wochen treffen wir uns mit Freunden zur “Kitchen Session”. Es wird geredet, getrunken, und wir rauchen Zigarren. Andrey steht meist abseits an seinem Kühlschrank, denn darauf hat er seine DJ-Anlage installiert. Er hängt an seinen Kopfhörern und wirkt konzentriert. Ich denke, er wäre sowieso lieber ein professioneller DJ als Manager eines Designstudios mit 140 Leuten, aber das DJen bringt eben nicht genug Geld – und bezahlt sicher nicht seinen kürzlich gekauften Mercedes CLK.

Wir, das ist ein Mix aus ungefähr zehn Leuten, meistens junge kreative Russen aus der Werbebranche und ein bis zwei Ausländer. Wir reden über Business, Andreys Musik, die letzte coole Party und natürlich auch Politik. Andrey guckt hin und wieder zu uns herüber und versucht, ein paar unserer Worte zu interpretieren, besonders wenn heiß diskutiert wird. Doch gerade, wenn er seinen Senf dazugeben will, merkt er, dass nur noch 30 Sekunden bis zum nächsten Song bleiben, und legt schnell den nächsten Titel auf. Andreys Küche ist klein. Es gibt nur drei Stühle, der Rest von uns muss stehen.

Es klingelt. Hm, wer kommt denn jetzt noch? „Eigentlich sind wir doch schon komplett“, meint Andrey, während er zur Tür rennt. Erst als der letzte Titel ausläuft, hören wir, dass es draußen im Gang Streit gibt. Wir gehen hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Auf dem Gang steht ein kahlköpfiger Mann in Unterhosen. Sein Gesicht ist rot, und die Adern an seinem Hals sind stark hervorgetreten. Gerade als wir ankommen, gibt er dem langen, schlaksigen Andrey einen heftigen Stoß gegen die Brust, sodass dieser nach hinten taumelt. Es ist der Nachbar, ein ehemaliger Soldat, der sich über die laute Musik aufregt. Sicher hat er seinen Lebensfrust schon in ein paar Wodkas ertränkt, sonst wäre er nicht so aggressiv. Wir ziehen Andrey in die Wohnung, drücken den Schläger nach draußen und schließen die Tür. Er schreit uns noch hinterher, dass er jetzt die Polizei holen wird. „Trink lieber noch ein paar Wodka und beruhig dich wieder“, raten wir ihm.

Zehn Minuten später steht Andrey wieder an seinem Mixer. Die Musik ist jetzt leiser. Die Polizei kommt natürlich nicht. Eigentlich haben wir dieses Schauspiel jedes Mal, wenn wir zur Kitchen Session eingeladen werden – nur dass es normalerweise bei verbalen Angriffen bleibt. Andrey meint noch kurz, dass er bald umziehen muss, denn sein Nachbar nervt. „Ich beschwere mich ja auch nicht, wenn der wieder mal betrunken ist und die ganze Nacht lautstark mit seiner Frau streitet.“ „Schlägt er sie?“, frage ich. „Keine Ahnung“, meint Andrey. „Ist mir auch egal.“

Ein Gutes hat die Sache jedoch. Ich habe endlich einen Sitzplatz am Tisch bekommen und muss nun nicht mehr stehen. Unter dem Tisch, zwischen meinen Füßen, liegt ein grauer Wollsocken. Hm, so einen habe ich auch, denke ich mir. Ganz genau so einen. Mein bester Freund Alex hat mir ein Paar von diesen geschenkt. Die sind echt gut. Dann wundere ich mich, wie dieser Socken hierherkommt. Andrey ist doch sonst so sauber und pedantisch. Nun liegt ein Socken unter seinem Tisch. Einer allein. Ganz allein. So wie es aussieht, eine gebrauchte, dreckige, stinkende Socke. Das ist schon komisch. Gerade vor einer Kitchen Session sollte Andrey doch aufgeräumt haben. Außerdem sind diese Socken so gar nicht sein Stil. Ich zeige Sonia die Socke. Auch sie ist überrascht, schiebt sie aber mit ihrem Fuß unauffällig zur Wand, damit sie nicht mehr mitten unter dem Tisch liegt.

Später, zuhause, denke ich wieder an die Socke. Sie war doch so ähnlich wie meine beiden. Zur Sicherheit suche ich mein Lieblingspaar und stelle fest, dass eine fehlt. Es war also meine Socke. Sie muss im Bein meiner Jeans gewesen und irgendwann herausgefallen sein. Mann, ist das peinlich. Jetzt bin ich wieder der verrückte Deutsche. Der, der stinkende Socken nach einem Besuch zurücklässt. Trotzdem, es sind meine Lieblingssocken, geschenkt von meinem besten Freund. Also rufe ich am nächsten Morgen Andrey an. Der kann sich vor Lachen gar nicht mehr halten. „Na klar, die Socke habe ich gefunden, aber zusammen mit den leeren Flaschen gleich entsorgt. Ich habe mich noch gefragt, wie die Socke unter meinen Tisch kam.“ Die andere, verbleibende Socke liegt nun einsam in meinem Schrank. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie auch wegzuwerfen. Wenigstens zaubert sie mir immer noch ein Grinsen ins Gesicht, wenn ich sie hin und wieder zwischen den anderen Paaren finde.

Photo by matt tipler on Unsplash

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