Graveyard in Paris
Meine Großmutter und ich hatten eine besondere Verbindung. Als sie mir sagte, sie habe Krebs, bat ich sie zu kämpfen – doch sie war mit 82 Jahren müde. Monate später verschlechterte sich ihr Zustand rapide, und ich schaffte es gerade rechtzeitig, um mich von ihr zu verabschieden. Zehn Stunden später starb sie – aus eigenem Willen, ohne Selbstmord, aber in Frieden. Ihr Tod lehrte mich, wie wichtig es ist, den Tod nicht zu verdrängen, sondern ihn als Teil des Lebens anzunehmen. Ich wünschte, ich hätte sie besser unterstützt, doch ich bin dankbar für unsere letzten Momente.

„Ich habe Krebs“, sagt meine Großmutter nüchtern an diesem sonnigen Septembertag. Sie versucht, Haltung zu bewahren, wie immer das starke Familienoberhaupt zu sein, aber ich kenne sie besser. In ihren Augen sehe ich Angst. Wir reden lange. Ich bin schockiert, weiß nicht recht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Meine Großmutter und ich hatten immer eine ganz besondere Verbindung zueinander. Ich denke, sie war wohl der wichtigste Mensch in meinem Leben.

„Du musst kämpfen! Du darfst nicht aufgeben“, sage ich. Was sonst sagt man einem todgeweihten Menschen? Einem Menschen, den man liebt. Ich kann einfach nicht fassen, was mit ihr passiert. „Weißt du“, meint sie, „mit 82 bin ich zu alt, um zu kämpfen. Die letzten 20 Jahre meines Lebens waren sehr schön, davor war es oft beschissen, manchmal aber auch gut.“ Sie benutzt wieder mal einen Kraftausdruck. Meine Großmutter war eine Lady, aber sie hatte den Anspruch, auch mal cool zu sein, sich auf das Niveau ihres Enkels herunterzulassen und ihn mit einer kräftigen Ansage zu überraschen. Das tat sie oft. Damals beim gemeinsamen Sonntagsmittagessen zum Beispiel, als sie plötzlich anfing, unverblümt über Sex zu reden. Sie muss wohl 70 gewesen sein, und ich Mitte 20. Ich war schockiert. Sie sah es mir an und sagte trotzig: „So lange eine Frau Treppen steigen kann, so lange kann sie auch Sex haben (oder darüber reden)!“

Wir haben uns oft sehr lange unterhalten. Sie hatte auch immer einen Rat parat, wenn ich nicht mehr weiter wusste. Jetzt sitzen wir beide wortkarg am Tisch. Meine Augen sind feucht, und ich kämpfe mit den Tränen. Sie sagt, dass sie keine Lust mehr aufs Leben hat. „Irgendwann nächstes Jahr geht mir ohnehin das Gesparte aus. Die Rente reicht nicht, um anständig zu leben“, sagt sie. „Ich will niemandem zur Last fallen.“ Sterben, weil man der nächsten Generation zur Last fallen könnte. In was für einer Zeit leben wir eigentlich? „Blödsinn“, sage ich. Ich rede vom Generationenvertrag und wieder vom Kämpfen. „Nur nicht aufgeben. Leben!“

Es fällt mir schwer, mich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Es ist nicht dieser überraschende Herzinfarkt oder Unfall, sondern ein lang anhaltender Prozess, welcher sich über die nächsten Monate hinziehen wird. Ich muss zugeben, ich bin damit überfordert.

In den nächsten Monaten reise ich noch öfter nach Deutschland und versuche, so viel Zeit wie möglich mit meiner Großmutter zu verbringen. Nein, es geht mir nicht darum, noch viel von ihr zu haben, bevor sie stirbt, sondern ich will ihr helfen, sie zum Kämpfen und Durchhalten animieren. Dabei will ich es selbst nicht wahrhaben, dass sie langsam stirbt. Ich verdränge diesen Gedanken erfolgreich mit meinen Kampfansagen gegen den Krebs.

Meine Großmutter weiß es besser. Sie hat keine Angst vor dem Sterben, aber vor dem langen Leidensweg davor. Sie bittet mich im schlimmsten Fall, mit ihr in die Schweiz zu fahren und Sterbehilfe zu leisten. Mir bleibt fast die Luft weg. Tränen kullern mir über die Wangen, aber ich sage zu. Ich gebe ein Versprechen, das mich die nächsten Wochen und Monate stark belasten wird. Auf der anderen Seite ehrt es mich, dass sie mich auswählt. Es mir zutraut, stark genug zu sein, um sie auf diesem Weg zu begleiten.

Die nächsten Wochen denke ich viel nach. Über das Leben, den Tod, meine Großmutter, meine Kindheit, wie es wohl sein wird, wenn ich sie beim Sterben begleite. Den letzten Gedanken verwerfe ich schnell wieder. Kämpfen. Ich muss kämpfen. Sie muss kämpfen. Es gibt doch Leute, die den Krebs besiegt haben. Warum nicht auch meine Großmutter?

Für eine kurze Zeit scheint meine Großmutter darauf einzugehen. Die ganze Familie redet auf sie ein. Ihr Sohn spricht mit Krebsspezialisten und schickt meine Großmutter von Klinik zu Klinik. Wir sind uns einig: Sie muss um ihr Leben kämpfen. Wir wollen sie noch nicht gehen lassen! Sie geht in eine Spezialklinik, um eine leichte Chemotherapie zu machen. Es ist hart, aber am Ende scheint der Krebs besiegt. Als sie nach Hause kommt, ist sie schwach, aber guter Dinge. Die Ärzte wundern sich, wie schnell sie sich nach der Chemotherapie wieder erholt. Wir haben Hoffnung.

Dann, ein paar Wochen später, kommen Schmerzen auf, und sie muss ins Krankenhaus. Wir telefonieren kurz, denn ich bin nun in Moskau. Sie hasst das Krankenhaus und hat die Nase gestrichen voll. Außerdem hat sie wahnsinnige Schmerzen. „Du musst kämpfen“, sage ich harsch, um sie zu motivieren. „Nur nicht aufgeben! Wer weiß, was das ist? Jetzt lass dich erst mal untersuchen.“ Doch die Schmerzen werden schlimmer und schlimmer. Die Diagnose sieht nicht gut aus. Es bilden sich wieder Metastasen. Sie wird wohl sterben. „Wie lange noch?“, fragen wir. „Das kann sich schon noch ein paar Monate hinziehen“, meint der Chefarzt.

Ich muss mich mit der Sterbehilfe auseinandersetzen und google alles Mögliche zum Thema Krebs und Sterben. Ich lese, bis meine Augen zu müde sind. Tränen tropfen auf das Keyboard meines Computers. Meine Freundin erkennt mich nicht mehr. Schwermütig, traurig und andauernd den Tränen nahe. Verdammt, ich bin wütend. Nein, nicht auf die Ärzte, auch nicht auf den Krebs oder das Leben, sondern auf mich. Ich hätte früher lesen sollen. Mich schlaumachen, anstatt alles zu verdrängen. Dann hätte ich ihr besser helfen können. Sie nicht mit dem Krebs kämpfen lassen, sondern sie zu unterstützen. Ihr das Leiden zu erleichtern und länger Abschied nehmen.

Moskau. Ein Samstag im März, das Telefon klingelt. Ich suche gerade eine neue Wohnung und denke, es ist der Makler, aber meine Großmutter ist am Telefon. „Ich werde sterben. Wann kommst du?“, fragt sie. Ich rede auf sie ein, versuche, sie zu trösten, komme aber irgendwann an den Punkt, an dem ich sprachlos bin. Gut, dass sie mich nicht sehen kann, denn ich heule wie ein Schlosshund. Ich bin mir sicher, dass sie es spürt. Ich erkläre ihr, dass ich gerade umziehen muss und erst nächste Woche kommen kann. „Dann ist es zu spät!“, sagt sie trotzig. Ganz so, als würde sie länger verreisen und wollte mich vorher noch einmal sehen. „Dann werden wir uns wohl nicht mehr sehen.“ Nun bin ich ein wenig sauer auf sie. Warum muss sie so viel Druck ausüben? Okay, sie ist krank, aber sie hat noch so viel Zeit und ich so viel zu tun. Trotzdem gibt sie mir ihre letzten Worte mit auf den Weg. Dann verabschieden wir uns.

Gleich nach dem Telefonat rufe ich meine Mutter an. Sie meint, dass sie gerade noch mal mit dem Arzt geredet hat und meine Großmutter es maßlos übertreibt. Es ginge ihr gar nicht so schlecht, und die Ärzte sagen, dass sie noch Monate leben wird. Ich solle mir Zeit nehmen und erst mal den Umzug regeln. Okay, ich bin beruhigt und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

Sonntagmittag, mein Handy klingelt. Es ist meine Mutter. „Ich glaube, du kommst jetzt besser doch. Ich denke, es geht zu Ende.“ „Wie? Was? Warum? Gestern meintest du doch noch …“ „Ich kann es dir nicht erklären“, unterbricht sie mich. „Gestern Abend hat sich ihr Zustand rapide verschlechtert, und heute sieht es nun gar nicht mehr gut aus.“

Ich lege auf. Suche im Internet nach einem Flug. Am besten heute noch. Vielleicht morgen früh. Bei Swiss gibt’s einen Flug in zwei Stunden, und das System erlaubt es mir sogar noch zu buchen. Ich packe meine Sachen und 20 Minuten später sitze ich im Taxi zum Flughafen. Es stürmt und schneit. Ich erzähle dem Taxifahrer, warum ich reise, und der Mann wird zum Superhelden. Er rast über die verschneite Autobahn und drängt andere Fahrzeuge ab. Trotz Schneechaos und Stau bin ich 45 Minuten vor Abflug am Flughafen. Ich bin der Letzte am Check-in. Auch an der Pass- und Sicherheitskontrolle läuft es glatt, und ausnahmsweise steht dort niemand an. Danach renne ich zum Gate und falle erschöpft in meinen Sitz.

Während des Fluges gehen mir allerhand Gedanken durch den Kopf. Immer wieder kullern mir Tränen aus den Augen. Verdammt, was sollen bloß meine Mitreisenden denken. Was bin ich nur für eine Memme. Dann denke ich an den Lieblingsspruch meiner Oma: Was die anderen über mich denken, interessiert mich nicht. Damit bin ich aufgewachsen. Das ist eine der vielen Weisheiten, die sie mir mit auf den Weg gegeben hat. Wie wird das nun werden, wenn ich in Bamberg angekommen bin? Wie wird das mit dem Sterben? In die Schweiz kann ich sie in diesem Zustand sicher nicht mehr fahren. Vielleicht doch? Hoffentlich schaffe ich es noch. Hoffentlich komme ich nicht zu spät.

Über Europa hängt ein Sturmtief. Auch in Zürich schneit es und ich habe Angst, meinen Anschlussflieger nach Nürnberg zu verpassen, doch alles läuft glatt. Als ich in der kleinen Maschine sitze, wird mir klar, dass ich es schaffen werde. Sie wird sicher noch leben, wenn ich ankomme, und sie wird mich noch einmal sehen. Dieser Trip war von Anfang an Mission Impossible und trotzdem lief alles so glatt, wie es sonst nie läuft. Das hat einen tieferen Sinn. Ich werde es schaffen.

Es ist halb elf nachts, als ich endlich in Nürnberg ankomme. Meine Mutter sieht schlecht aus. Sie mimt die Starke, aber man sieht, dass das alles sehr an ihr zehrt. Wir fahren sofort ins Krankenhaus. Als ich dort ankomme, bin ich erst mal geschockt. Meine Großmutter sah immer recht gut aus. Sie war noch bis vor Kurzem, trotz Krebs, total fit und sah 10–15 Jahre jünger aus. Die Frau im Bett scheint nicht meine Großmutter zu sein. Sie sieht alt aus, schwach, und es steckt nicht mehr viel Leben in ihr. Sie ist zu schwach, um zu reden, hat aber die Augen offen. Ich setze mich zu ihr, gebe ihr einen Kuss auf die Wange und rede mit ihr. Sie zwinkert mit den Augen, um mir zu verstehen zu geben, dass sie mich noch sieht, hört und fühlt. Gut, ich bin angekommen und wir können uns wenigstens noch voneinander verabschieden. Ich bin traurig, überwältigt, aber auch glücklich, hier sein zu können. Oft weiß ich nicht, was ich noch sagen soll. Im Nachhinein hätte ich ihr so viel zu sagen gehabt, doch in diesem Moment sind meine Gefühle total verwirrt. Hauptsache hier sein, bei ihr sein.

Zehn Stunden später ist meine Großmutter tot. Es war der 6. März 2006. Die Ärzte wunderten sich über ihren schnellen Tod, aber ich denke, sie hatte einfach keine Lust mehr und sie wollte uns, ihre Familie, auch nicht weiter belasten. Sie war eine starke Frau, bis zum Ende. Sie hat sogar das Sterben selbst in die Hand genommen und es nicht ihrem Enkel und einer Sterbehilfeorganisation überlassen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Sie hat keinen Selbstmord begangen, sondern einfach nur mit dem Leben abgeschlossen. Es ist kaum zu glauben, was der menschliche Wille zu bewegen mag. Ich bin heute noch baff über diese Willensstärke, den Willen zu sterben und den derart schnellen Tod danach.

Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, mich von ihr zu verabschieden. Ich wünschte, ich hätte noch mehr Zeit mit ihr verbracht und vor allem akzeptiert, dass sie sterben muss. Es wäre ihr sicher leichter gefallen, wenn ich es früher akzeptiert und sie moralisch dabei unterstützt hätte, anstatt leere Floskeln vom Kämpfen auszuteilen. Ich möchte niemanden belehren, schreibe aber darüber, weil wir alle uns vielleicht ein bisschen mehr mit dem Tod auseinandersetzen sollten. In unserer Gesellschaft wird der Tod verdrängt. Alte Menschen werden ins Krankenhaus oder ins Pflegeheim gesteckt und sterben dort fernab der Öffentlichkeit, manchmal sogar ohne ihre nächsten Angehörigen. Dennoch ist der Tod unvermeidbar und ein Teil (das Ende) unseres Lebens. Manchmal kommt man ihm schneller näher, als man denkt. Man hat dann oft nicht mehr die Zeit, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Nicht als Betroffener, aber auch nicht als Familienangehöriger oder Freund. Selbst wenn man die Zeit hat, dann fällt es einem schwer, den Tod zu akzeptieren.

Im Gedenken an Charlotte Thoma, gestorben am 6. März 2006.

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