Seattle und die grüne US Einreisekarte

Seattle Wharf
Ein chaotisches Abenteuer zwischen Vancouver und Seattle: Mein Versuch, 1999 die US-Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, gerät zur nervenaufreibenden Reise. Von Grenzkontrollen, kuriosen Zöllnern und absurden Verhandlungen bis hin zu einem schweißtreibenden Rennen zum letzten Zug – dieser Trip war alles andere als gewöhnlich. Doch am Ende, zwischen kalten Bieren im Zug und frischem Alaska-Lachs in Seattle, bleibt ein Gedanke: Grenzbeamte sind vielleicht doch Menschen, und ein bisschen Glück schadet nie.

Nein, meine Story hat (fast) nichts mit Starbucks, dem Paramount Theater, der Space Needle oder Fremont zu tun. Es geht um den Versuch der Verlängerung meiner Aufenthaltserlaubnis in den USA im Jahr 1999 …

Ich lebe in New York und habe wieder mal ein Cashflow-Problem. Gerade habe ich einen Freelance-Job in einer Werbeagentur bekommen. Der Laden gefällt mir, und die Arbeit macht Spaß, aber meine drei Monate Aufenthaltszeit laufen ab, und ich muss das Land mindestens für ein paar Tage verlassen. Mein Bankkonto ist leer, und das Honorar von der Agentur kommt erst Ende des Monats. Es ist Juni, Hauptreisezeit, und Flüge nach Deutschland sind teuer. Der günstigste liegt bei 600 Dollar.

Auf meinem Skymiles-Konto sind genügend Meilen, um innerhalb der USA zu fliegen, aber für Europa reicht’s nicht. Vielleicht die Virgin Islands? Die sind ja Englisch, nicht so weit weg, und da ist gerade Regenzeit. Nein, nicht genügend Meilen, Flug zu teuer und Hotel trotz Nebensaison unbezahlbar. Also vielleicht nach Mexiko oder Kanada? Mexiko ist zu gefährlich. Da checken sie an der Grenze bestimmt ganz besonders. Also Kanada. Hm, da war doch die Freundin meines Bruders aus Seattle, welche ich auf dessen Hochzeit kennengelernt habe … Kurzer Anruf. Alles klar, ich kann bei ihr schlafen. Also Flug gebucht und ab die Post nach Seattle.

Maggie, die Freundin meines Bruders, ist supernett und holt mich vom Flughafen ab. Sie wohnt in Fremont zusammen mit Irene. Maggie ist mehr die Sportliche und Elegante. Irene ist eine Hippie-Frau vom Feinsten mit einer tiefen spirituellen Ader. Überhaupt ist Seattle eine sehr spirituelle Stadt. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber wo man hingeht, sieht man Läden mit Kram aus Tibet, Büchern über Buddhismus und und und. Auch die Leute hier sind sehr frei. Jeder redet mit jedem. Nicht wie in New York, wo man im besten Fall mal übel angeschnauzt wird (als Bayer mag ich das ja …).

Nach einem Tag in Seattle muss ich mich auf den Weg nach Kanada machen. Ich nehme den Greyhound-Bus nach Vancouver, und zwei Stunden später stehen wir an der kanadischen Grenzkontrolle. Der kanadische Beamte sieht mich an, überlegt kurz und lässt mich einreisen. Doch er nimmt die grüne Visa-Waiver-Karte der USA nicht aus meinem Pass (was er eigentlich machen sollte). Ich frage nach, und er fragt zurück: „Sie kommen doch wieder in die USA, oder?“ Ja, antworte ich. „Na ja, dann machen das die US-Kollegen bei der Einreise,“ sagt er. Ich bitte ihn nochmals, die Karte herauszunehmen. Keine Chance. Jetzt hab ich ein Problem!

Es geht eine Stunde weiter mit dem Bus nach Vancouver. Die Schönheit der vorbeiziehenden Berge und Wälder kann ich wegen meiner Visa-Probleme nicht so recht genießen. In Vancouver quartiere ich mich in eine YMCA (eine Art Jugendherberge) ein. Die sind immer günstig, mitten in der Stadt und meistens nicht schlecht (wie ein ganz normales Hotel mit Einzel- und Doppelzimmern). Ich bleibe zwei Tage und dann will ich mit dem Zug wieder zurück nach Seattle, bekomme aber langsam Angst. Den Rest des Tages verbringe ich im Internetcafé, um eine Lösung zu finden. Mist. Man hat das Gesetz geändert. Ausreisen nach Kanada zählen nicht mehr als Ausreisen, um einen neuen Visa-Waiver zu bekommen. Meine Panik steigt.

Am Abend treffe ich einen Freund, den ich vom Snowboarden in Alaska kenne. Wir skateboarden die Straßen von Vancouver. Skaten tut mir jetzt gut. Ich falle ein paar Mal auf die Nase, aber das ist egal. Einfach mal abschalten.

Am Tag darauf liege ich mitten in der Stadt am Strand und hole mir einen fiesen Sonnenbrand. In Vancouver denke ich, muss ich mit der Sonne nicht so aufpassen, aber weit gefehlt. Abends treffe ich mich wieder mit meinem Freund zum Skaten und danach zum Grillen mit dessen Freunden. Wenigstens habe ich hier schon mal Kontakte, falls ich erst mal in Kanada bleiben muss. Mir gehen Gedanken durch den Kopf. Was ist mit meinem neuen Job? Was mit meinen Sachen und meiner Wohnung in New York? Was mit meiner Freundin? Wenn ich jetzt bei der Einreise abgelehnt werde, dann kann ich eine ganze Weile nicht mehr in die USA zurückkommen. Gerade jetzt, wo das Leben endlich mal angenehm zu werden scheint und der Kampf in New York langsam erträglich wird.

Es ist Mittwoch, und ich checke für den Nachmittagszug nach Seattle ein. Mit mulmigem Gefühl im Bauch gehe ich zur Passkontrolle. Was ist das? Die Amerikaner kontrollieren hier (in Vancouver) auch gleich für die US-Einreise? Darauf war ich nicht vorbereitet. Der US-Grenzschutzbeamte ist ein großer Afroamerikaner. Könnte ein Basketballspieler sein. Sein Cube (die Box, in der er sitzt) scheint ohnehin zu hoch zu sein, sodass ich gerade nur über den Rand schauen kann. Oder komme ich mir im Moment nur so klein vor? Er schaut von oben auf mich herunter und sagt: „Na, was haben wir denn da?“ Er sieht mein Touristenvisum, welches nach zehn Jahren gerade erst dieses Jahr ungültig wurde. Er sieht zahlreiche Einreise-Stempel von den letzten zwei Jahren, und er sieht meine grüne Visa-Waiver-Karte. Dann schüttelt er den Kopf. „Haben Sie ein Flugticket zurück nach Deutschland?“ fragt er.

Klar, das habe ich vorsorglich mal mitgenommen, doch das ist (berechnend) schon mal auf Ende September ausgestellt. Genau auf den Ablauf der nächsten 90 Tage. Ich war so naiv und dumm! Er schüttelt wieder den Kopf und sagt: „Na, da haben Sie jetzt ein Problem!“ Ja, das weiß ich schon seit drei Tagen, denke ich und fange innerlich an zu zittern. Wieder schießen mir die Gedanken durch den Kopf. Freundin, Apartment, Job … Ruhig bleiben, Chris. Ruhig bleiben!

Man bringt mich in einen Nebenraum. Mein Zug fährt erst in 1 ½ Stunden. Genug Zeit, denke ich. Der Grenzschützer holt noch zwei Kanadier. Die beiden kanadischen Zöllner sind Indianer. Wie aus einem Wild-West-Film, nur mit für sie viel zu kleinen Uniformen. Am Ende der Hosen sieht man die Beine und am Ende der Ärmel die Unterarme. Es sieht fast lustig aus und ich muss grinsen. Die Männer beraten, was sie denn jetzt mit mir machen. „Haben Sie Geld?“, fragt einer. „Nö, keinen Cent.“ Ich erzähle eine Geschichte. Meine reiche Freundin bezahlt für mich in New York, und ich bin eigentlich nur zu Besuch. Warum soll ich arbeiten und in Deutschland sein, wenn sie mich aushält und mich bei sich haben will? Meine (damalige) Freundin kennt die Story, für den Fall, dass mal jemand von der Einwanderungsbehörde anruft. Sie ist ohnehin Italienerin mit schlechtem Englisch, und der Beamte würde bald genervt aufgeben. Der Amerikaner sagt, dass er mich nicht reinlassen kann. Die Kanadier sagen, dass sie mich nicht haben wollen. Ich habe ein Flugticket von NYC nach München in drei Monaten, argumentieren die Kanadier. Man verhandelt, kommt aber zu keinem Entschluss. Der Amerikaner geht aus dem Raum. Er hat nun auch ein Problem, und das bin ich.

Erwischt beim Versuch, meine amerikanische Aufenthaltserlaubnis mit einem Trick zu verlängern. Gestrandet in Vancouver. Und wie geht’s jetzt weiter?

Die Kanadier durchsuchen zum Zeitvertreib meine Sachen. Ich muss mich sogar bis auf die Unterhosen ausziehen, und der Indianer macht sich über meine Tattoos lustig. Dann kommt die Frage: „Du bist Skateboarder?“ Ich habe ja mein Board dabei. „Ja,“ sage ich. „Snowboarder auch.“ – „Die nehmen doch alle Drogen!“, stellt der Kanadier fest. „Kann schon sein,“ antworte ich. Abermals werden alle meine Sachen genauestens unter die Lupe genommen.

„Und du?“, fragt der andere.

„Ich?“ Kurz überlege ich. Was soll ich sagen?

Ich bekomme eine Menge Druck von den beiden. Wenn ich etwas dabei hätte, dann solle ich es ihnen geben. Auch Pfeifen, Papers und anderes Zubehör. Denn wenn der amerikanische Zoll das findet, dann gehe ich sofort in den Knast. Die wären da nicht zimperlich, sagen sie. Sie, die Kanadier, würden mir den Kram nur abnehmen, und das wäre es.

Wait a minute? Hat der gerade „amerikanischer Zoll“ gesagt? Das bedeutet Einreise!!! Ich habe Hoffnung.

„Mann Leute, denkt ihr, ich bin blöd?“, antworte ich. „Ich werde ganz bestimmt nach Kanada fahren, um meinen Visa-Waiver zu verlängern (das war ja offensichtlich) und dann noch einen Beutel Gras mit zurück in die USA nehmen, oder?“ Das leuchtet sogar dem dümmsten kanadischen Zöllner ein. Sie geben auf und verlassen ebenfalls den Raum.

Ich sehe auf die Uhr und langsam wird die Zeit knapp. Noch 30 Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges, und das ist der Letzte für heute. Ich sehe mich schon in einer kanadischen Abschiebe-Zelle übernachten. Und dann?

Eine Weile später geht die Tür auf und der große Amerikaner kommt wieder rein. „So, du bist also Kiffer,“ fragt er mit fieser Poker-Miene. Uff, jetzt kommt der auch noch, denke ich. Offensichtlich haben er und die Kanadier geredet.

Ich bin nun jedoch ziemlich selbstsicher. Jetzt habe ich eh nichts mehr zu verlieren, oder?

„Ja, war ich früher mal,“ antworte ich. „Habe viel gekifft, aber beschlossen, damit aufzuhören.“

„Warum?“, fragt er mich und seine Mundwinkel zucken.

„Na ja, man wird älter. Das Zeug bremst einen nur, und man bekommt nichts mehr gebacken,“ ist meine Antwort.

Plötzlich bricht ein Grinsen durch sein Poker-Face. Komisch, was ist los? Es ist einen Moment lang still im Raum. Er scheint sich das Grinsen verkneifen zu wollen, doch es gelingt ihm nicht.

„Nenne mir einen driftigen Grund, warum du Ende September freiwillig zurück nach München gehst,“ sagt er.

Ich wittere meine Chance und es sprudelt aus mir heraus, wie aus einer Mineralwasserflasche, die man schüttelt und gleich danach aufmacht. „Meine Mutter lebt allein in einem großen Haus. Da gibt es jede Menge Arbeit. Die packt sie nicht. Außerdem ist sie krank. Probleme mit dem Herz. Ich habe auch noch ein Auto. Einen ganz tollen Peugeot 306 Turbo Diesel. Wollen Sie ein Foto sehen? Und einen Hund, den ich total gerne habe. Hier ist ein Foto von meinem Hund.“

Ich bin ein schlechter Lügner, aber er scheint’s zu glauben.

„OK, OK,“ sagt er. „Pack deine Sachen und komm’ mit, der Zug wartet schon auf dich.“ (Wir sind fünf Minuten hinter der Abfahrtszeit.)

Wir gehen wieder vor zu seiner Box. Er macht mir einen Stempel in den Pass und wünscht mir eine gute Reise. „Zurück nach Deutschland,“ fügt er hinzu. Das Grinsen hat er immer noch in seinem Gesicht.

„Ja, danke, und tschüss,“ antworte ich abwesend und renne zum Zug.

Pffffff. Gerade noch mal an der Katastrophe vorbeigeschrammt, denke ich. Der Schaffner steht schon in der Tür und wartet. „Na, du Troublemaker,“ begrüßt er mich lachend.

Ich falle in meinen Sitz. Der Zug bewegt sich in Richtung Süden, und ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich nicht in einer Zelle gelandet bin. Eine Schaffnerin kommt, grinst mich an und meint: „Du schaust so aus, als könntest Du ein kaltes Bier vetragen“. Sie grinst mich an und gibt mir eine Dose kaltes Bier.

Was war passiert? Waren es die hartnäckigen Kanadier, die mich nicht haben wollten? Schon gar nicht so kurz vor Feierabend. Oder war es die Kiffer-Story? Vielleicht war der Ami selbst mal Kiffer? Oder war ich ihm einfach nur sympathisch? Vielleicht sind Zöllner und Grenzpolizisten doch auch nur Menschen?

Draußen zieht eine einzigartige Landschaft vorbei. Ich genieße die Aussicht und denke hin und her. Man kann diese Zugfahrt nur jedem empfehlen (wenn er die richtigen Papiere bei sich hat). Berge, Fjorde und jede Menge zu sehen. Die Gedanken können sich frei entfalten, während die Landschaft an einem vorbeifliegt. Und das Ganze mit ein paar kalten Bieren. Herrlich!

Drei Stunden später komme ich in Seattle an. Maggie holt mich ab. „Dein Zug hat Verspätung!“, schimpft sie.

„Ja, ich weiß, das war wegen mir. Du glaubst ja nicht, was mir passiert ist …“

An diesem Abend sitzen wir in der Küche von Irene und Maggie. Es gibt frischen Alaska-Lachs. Den hat Irenes Bruder gerade erst dort oben im Norden gefangen, in eine Eisbox gepackt und mit dem Flieger zu uns geschickt.

„So schmeckt also richtiger Lachs,“ denke ich und schlürfe an meinem Wein.

Irene und Maggie können meine Geschichte gar nicht glauben. Ich selbst auch nicht, aber jetzt bin ich zurück in Seattle, und übermorgen geht’s wieder nach New York. Zurück zu meiner Freundin, unserem Apartment, meiner Katze „Pepe“, meinem neuen Job und meinen Freunden.

Bis in drei Monaten, dann muss ich wieder los und eine Lösung finden. Dann mit zitternden Knien. Noch heute habe ich ein klein bisschen Nervosität bei der Einreise in die USA, wenn ich vor dem Grenzschützer stehe, obwohl ich schon lange nicht mehr dort lebe.

Photo by Felipe Galvan on Unsplash

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