Ich war am 11. September dabei. Nein, nicht direkt Downtown, aber nah genug. Zu nah!
Ich sitze gerade noch im Bett und bearbeite ein Angebot, das am Vormittag noch raus muss. Es ist ungefähr 8:50 Uhr morgens, als eine E-Mail von meiner Ex-Freundin Nadja eintrifft. Der Wortlaut: „Chris, gib ein Lebenszeichen nach dieser Katastrophe!“ Ich gehe zum Fenster, schaue hinaus. Draußen ist blauer Himmel, und auf der St. Marks Street gehen die Leute geschäftig ihrem Leben nach. Alles ist, wie es sonst auch ist – ein normaler Morgen an einem schönen New Yorker Herbsttag.
Irgendetwas muss passiert sein, also checke ich die News im Internet. Aha, ein Flugzeug ist ins World Trade Center geflogen. Es gibt noch keine Bilder. Ich denke, es ist ein Unfall, vielleicht eine dieser kleinen Cessnas, die den ganzen Tag den Hudson River rauf- und runterfliegen. Die Amis übertreiben wahrscheinlich mal wieder. Ist ja immer so.
Ich dusche gemütlich und mache mich fertig fürs Büro. Danach checke ich noch mal die News. Ein zweites Flugzeug ist in den anderen Tower geflogen. Präsident Bush spricht von Terror. Hm, scheint wohl doch etwas Ernsteres zu sein, aber ich denke immer noch an eine Cessna. Vielleicht mit Sprengstoff beladen oder so etwas. Ich gehe zur Arbeit.
Draußen vor der Tür stehen die Leute dicht gedrängt neben den Autos, die ihr Radio anhaben. Man lauscht und diskutiert. Jetzt begreife ich langsam, dass es wohl doch etwas Größeres gewesen sein muss. Das Leben steht still in New York. Man wartet auf mehr Neuigkeiten und ist fassungslos. Noch sehe ich kaum Angst, aber Entsetzen in den Gesichtern der Menschen, an denen ich vorbeilaufe.
Am Astor Place habe ich dann das erste Mal Blick auf das World Trade Center, aber ich sehe nur Rauch, dort, wo sonst die Spitzen der Türme über die Häuser hinausragen. Auf der Lafayette Street fahren Krankenwagen Richtung Norden. Kurz danach bin ich auf dem Broadway. Die Straße ist leergefegt, nur hin und wieder donnert ein Einsatzwagen mit Blaulicht und Sirene vorbei. Von Süden kommen mir viele Leute entgegen. Jemand erzählt mir, dass die U-Bahnen nicht mehr fahren.
Ich laufe gegen den Strom. Die Gesichtsausdrücke der Menschen machen mir Angst. Trotzdem gehe ich weiter Richtung Büro. Dort habe ich schnelles Internet, meinen Pass, meine Daten. Ich kann dort in Ruhe entscheiden, was ich machen werde. Nach zwei Blocks verlasse ich den Broadway und gehe in Richtung Washington Square Park.
Normalerweise genieße ich diesen allmorgendlichen Weg zur Arbeit. Heute ist es beängstigend. Als ich am Park ankomme, klingelt mein Handy. Eine Journalistin vom NDR ist am Apparat. Wir waren am Abend für ein Interview verabredet. Sie fragt, wie es bei uns aussieht.
Nur ein paar Minuten später biege ich in die La Guardia Street ein. Dort ist mein Büro, und von dort hat man normalerweise den besten Blick auf die Zwillingstürme. Hier fahren auch immer die Touristenbusse lang, und jemand erzählt etwas über deren Entstehung und Bau. Ich bin immer noch am Telefon, aber jetzt stockt mir der Atem. Wo sind die Türme?
Als ich um die Ecke komme, sehe ich gerade noch, wie der Nordturm in sich zusammenfällt. Dort, wo früher die beiden imposanten Türme standen, ist jetzt nur noch eine Rauchwolke.
„Was ist los? Hey! Was ist los?“, fragt die Journalistin. Ich kann nicht antworten. Das erste Mal in meinem Leben bleiben mir die Worte im Halse stecken. Blackout. Ich bin fassungslos.
Um mich herum schreien die Leute. Einige sind hysterisch. Andere wütend. Manche heulen. Viele sitzen auf dem Bürgersteig, andere stehen zusammen und halten sich gegenseitig in den Armen. Einer liegt auf der Strasse und trommelt mit seinen Händen auf den Asphalt. Es herrscht Ausnahmezustand. Schock. Keiner ist normal, keiner kann sich beherrschen oder seine Gefühle unterdrücken. Ich gehe weiter. Es sind nur noch ein paar Meter bis zum Büro. Ich brauche Informationen. Was ist passiert? Wie ist die Lage? Ich muss mir ein Bild machen.
Am Telefon ist immer noch die Journalistin. „Die Türme … Beide sind weg“, stammele ich. „Wie weg? Wie kann das sein?“, fragt sie. „Weg. Eingestürzt. Nicht mehr da. Es muss sehr viele Tote gegeben haben. Um diese Zeit sind schätzungsweise 25.000 Leute in der Gegend“, antworte ich ihr. Mein Gehirn läuft langsam wieder an.
Kurz vor dem Büro kommen mir die ersten verdreckten Leute entgegen. Sie müssen beim Einsturz des Südturms dabei gewesen sein. Ihre Kleidung und Haare sind mit weißem Staub überzogen, und in ihre Gesichter ist der Horror geschrieben.
Im Büro ist nur eine Mitarbeiterin. Sie ist panisch-hysterisch, und ich versuche, sie zu beruhigen, aber ich glaube meine eigenen Worte nicht. Mittlerweile funktionieren die Mobiltelefone nicht mehr, und man kann auch keine Ferngespräche mehr führen. Der Fernseher bringt auch keine Programme, denn der Sendemast stand auf dem WTC, und wir haben kein Kabelfernsehen.
Das Einzige was funktioniert ist das Radio. Aber auch dort herrscht eine ähnliche Stimmung wie auf der Straße. Die Moderatoren weinen, sind aufgeregt, lassen Anrufer zu Wort kommen, die hysterisch schreien. Howard Stern will die ganze arabische Welt mit Atombomben bewerfen und drückt jeden kritischen Anrufer weg. Im Radio heißt es, es sei Krieg. Ein Flugzeug ist ins Pentagon geflogen, ein anderes auf einem Acker zerschellt. Weitere acht Flugzeuge seien noch in der Luft.
Keiner weiß, wohin sie fliegen oder wo sie einschlagen werden. Manhattan wird weiterhin als mögliches Ziel genannt. Hatten die Flugzeuge Bomben an Bord? Vielleicht radioaktives Material oder biologisch-chemische Kampfstoffe? Alles scheint möglich. Irgendwo in der Stadt sollen zwei Lieferwagen mit Sprengstoff explodiert sein, und man vermutet weitere. Der gesamte Flugverkehr in den USA wurde gestoppt, alle Maschinen mussten landen.
Wie soll es weitergehen? Ich lese die Nachrichten im Internet. Es ist quälend langsam, aber im Moment die einzige verlässliche Informationsquelle. Ich schreibe E-Mails an meine Freunde und bitte sie, bei meiner Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass ich wohlauf bin.
Langsam beruhige ich mich und mache mir einen Plan. Erst mal hierbleiben und abwarten. Ich erstelle Backups der wichtigsten Daten und versuche, meine New Yorker Freunde zu erreichen. Jetzt denke ich an meinen deutschen Kumpel Max, der sein Büro im Nordturm hatte. Ich frage mich, ob er überlebt hat, und hoffe, es geht ihm gut.
Immer mehr Leute kommen ins Büro – Angestellte, aber auch Freunde und Bekannte. Brigitte, die für CNN Deutschland arbeitet, war in der Nähe des World Trade Centers. Als der Südturm einstürzte, stand sie gerade an einem Fernsprecher und telefonierte mit ihrer Mutter. Danach, sagt sie, ist sie nur noch gerannt – ohne nachzudenken, einfach die Straße nach Norden hinauf, weg vom World Trade Center, bis sie irgendwann vor meiner Bürotür stand.
Hin und wieder kommt ein Anruf aus dem Ausland durch. Freunde erkundigen sich nach uns, Journalisten wollen Live-Interviews mit Brigitte fürs Radio machen. Am Nachmittag gehe ich in den Supermarkt gegenüber, um Limonaden zu holen. Die Regale sind leergeräumt, nur noch belangloses Zeug ist übrig. Die Leute horten Vorräte wie Konserven und Wasser. Verdammt, daran hatte ich gar nicht gedacht. In Panik kaufe ich, was noch übrig und brauchbar ist.
Als ich aus dem Laden komme, halte ich kurz inne und schaue Richtung Süden. Dort unten stehen die Zwillingstürme nicht mehr. Wie schrecklich. Wie viele Menschen sind wohl gestorben? Die Leute diskutieren immer noch. Ich lausche und denke nach, als plötzlich ein weiteres Gebäude in sich zusammenfällt. Es sieht fast aus wie eine kontrollierte Sprengung. Erst lösen sich oben ein paar Platten, dann stürzt das Gebäude in sich zusammen. Es war WTC 7.
Am Abend beschließen wir, zu meinem Freund Francois zu gehen. Ich lade Brigitte und die Journalistin vom Norddeutschen Rundfunk ein. Sie wollen ein Interview mit ihm machen. Francois hat die Ereignisse, wie viele New Yorker, von seiner Dachterrasse aus beobachtet und Fotos geschossen. Er und seine Frau sind genauso fassungslos wie wir alle.
Nach dem Interview sitzen wir auf seiner Terrasse und reden. Wir alle fühlen uns, als wären wir in einem Film – nur, dass die Fiktion zur Realität geworden ist, und es fällt uns verdammt schwer, das zu begreifen. Immer wieder wandert unser Blick dorthin, wo sonst die beiden Türme leuchteten. Dann kommt der Schock: Dort ist jetzt nur noch Rauch.
Irgendwann dreht der Wind. Der Rauch zieht zu uns herüber, und feine weiße Asche rieselt wie Schnee auf die Straße. Es ist ein seltsamer Geruch – synthetisch, wie verbranntes Plastik, mit einem metallischen Anteil. Ich denke an die vielen Toten und daran, dass deren Asche ebenfalls in dieser Wolke schwebt. Mir wird schlecht.
Wir gehen nach Hause. Die Stadt ist unheimlich still, nur die Sirenen der Einsatzwagen durchbrechen die Ruhe. Auf der Strasse im East Village und auf den Autos liegen ein paar Zentimeter weisse Asche. Es sieht fast aus, wie Neuschnee. Bizarr. Was für ein Tag. Er sollte mein Leben und mich für immer verändern.
Am 11. September 2001 ist mein guter Freund Atsushi Shiratori im Nordturm ums Leben gekommen. Ich sollte das erst am nächsten Tag erfahren. Er war Manager und Teilhaber bei Cantor Fitzgerald, jener Firma, die zwei Drittel ihrer Angestellten an diesem Tag verlor. Atsushi hatte sein Privatleben immer strikt von seiner Arbeit getrennt. Ich wusste zwar, wo er arbeitete, aber bis 9/11 nichts von seinem Büro ganz oben im WTC.
Mein Freund Max stand um 8:46 Uhr noch im Stau vor dem World Trade Center. Er hat sein Büro und seine ganzen Daten verloren, aber Gott sei Dank überlebt.
Seit Jahren ist dieser Tag nun ein Tag der Trauer. Am Anfang war der 11. September zu viel, um es zu begreifen. Dann habe ich Abstand genommen, versucht, meine eigene Situation zu stabilisieren und mich zu schützen. Ich verdrängte, was um mich herum passierte, und versuchte, cool zu bleiben.
Am Tag danach rief mein Geschäftspartner und Atsushis bester Freund Marc Harris an und erzählte mir vom vermutlichen Tod unseres gemeinsamen Freundes. Marc hatte die ganze Nacht in Krankenhäusern nach Atsushi gesucht. Mit diesem Anruf wurde der 11. September persönlich und traf mich ins Herz. An den Folgen leide ich noch heute.
Fotos: Francois Portmann
Aus meinem Fotoalbum
Fotos: Francois Portmann