Wie mein Freund Alex während seines ersten New-York-Besuchs zu seinem merkwürdigen Spitznamen kam.
Dienstags ist auch in New York nicht viel los. Die Straßen im East Village sind leergefegt. Der Big Apple schläft nie, und das stimmt, aber von Sonntag bis Mittwoch muss man das tobende Leben und die Partymacher schon suchen oder wissen, wo was los ist. Ich mag diese Tage zum Ausgehen besonders, denn dann trifft man die Künstler, Paradiesvögel und Szenegänger.
Mein Freund Alex ist gerade zu Besuch in New York. Es ist sein erstes Mal im Big Apple, und wir gehen in eine meiner Lieblingsbars. Wir bekommen sogar einen Platz auf der Couch und schlürfen ein Bier aus Jamaika. Leider ist nicht viel los. „Komm, wir ziehen weiter in den nächsten Laden.“ Alex nickt, wir trinken aus und ziehen weiter. Wir gehen ins „Sophie’s“ auf der 5. Straße zwischen A und B. Hier ist immer was los, und du bist sicher nicht lange alleine. Im „Sophie’s“ findet man Ur-New-Yorker und East-Village-Classics. Die Leute, die noch nicht vor den Yuppies nach Brooklyn geflüchtet sind. Aber auch hier ist’s heute langweilig, und wir beschließen, nach Hause zu gehen.
Ich überrede Alex noch zu einem Absacker in dem Laden, in dem wir den Abend begonnen haben. Dort ist immer noch nichts los, aber weil wir schon mal da sind, trinken wir eben noch ein Red Stripe. An der Bar neben uns stehen zwei Mädels. Alex und ich unterhalten uns auf Deutsch, da dreht sich eine von den beiden zu mir und spricht mich auf Deutsch an. „Wo kommt ihr her?“, fragt sie. Sie ist Peruanerin, studiert in New York und hat eine Weile in München gelebt. „Ah, da bin ich geboren und dort hab ich lange gelebt“, antworte ich. Schon sind wir im Gespräch. Mein Freund Alex labert in Englisch mit ihrer Freundin.
Kurze Zeit später – es sind wohl fünf Minuten vergangen – schaue ich nach Alex, und die beiden knutschen schon. Hm, denke ich, das ging ja schnell. Alex ist doch sonst eher konservativ, schüchtern und nicht so ein Draufgänger. Na ja, soll er seinen Spaß haben. Ich mache weiter Smalltalk mit der Peruanerin, aber irgendwie kommen wir nicht zusammen. Während hinter uns heiß geknutscht wird, funkt es zwischen uns nicht.
Um drei in der Früh macht der Laden dicht. Was nun? Ich bin müde, muss morgen arbeiten und will heim. „Kommt doch noch mit zu uns. Wir haben auch was zu rauchen“, sagt die Peruanerin und lächelt. Hm, ich überlege noch, während Alex schon mit seiner neuen Flamme ins Taxi steigt. Okay, gehe ich lieber mal mit, um sicherzugehen, dass mein Freund später gut nach Hause kommt.
Die Peruanerin wohnt in einem Wohnklo in Downtown Manhattan. Nein, wirklich – ein Schrank, ein Bett, dazwischen ein Meter und dann noch ein paar Regale an den Seiten. Die Peruanerin und ich sitzen auf dem Bett, während Alex es sich mit seinem Mädel auf dem Boden bequem gemacht hat. Ich verstehe die Welt nicht mehr – das ist so untypisch für Alex. Na ja, stille Wasser sind tief, denke ich.
Am Boden geht’s schon richtig heftig zur Sache. Die Peruanerin und ich schauen zu und fühlen uns falsch am Platz. „Ach, was soll’s“, denke ich mir und starte einen Annäherungsversuch. Die Antwort kommt postwendend: „Wenn du glaubst, dass wir jetzt Sex haben oder sonst was, dann hast du dich geschnitten“, sagt sie bestimmend. „Okay, okay, ich wollte ja eigentlich eh nicht“, denke ich und bleibe sprach- und tatenlos.
Wir beschließen, unseren Freunden das Apartment zu überlassen, und gehen spazieren. Draußen dämmert es langsam. Wir laufen zur Brooklyn Bridge. Die Luft ist lauschig warm, und von der Brücke aus sehen wir Manhattan im Morgengrauen. Es ist super schön und fast ein wenig romantisch. Ich bin leider nur mit der falschen Frau unterwegs. Auf dem Rückweg gehen wir in ein 24-Stunden-Diner, um zu frühstücken. Die Peruanerin hat ihr Geld vergessen. „Okay, bist eingeladen, was bleibt mir übrig.“
Nun sollten unsere beiden Freunde fertig sein. Schließlich ist es schon sechs in der Früh, also nehmen wir ein Taxi zu ihr nach Hause. Auf dem Weg wird der Peruanerin schlecht. Der viele Alkohol, ein Joint und das Frühstück vertragen sich nicht. Der afrikanische Taxifahrer hat Panik und fährt wie ein Henker. Ich beschwichtige die Peruanerin verbal: „Halt durch! Wir sind gleich da!“ Dabei komme ich mir vor wie mit einer Schwangeren auf dem Weg ins Krankenhaus.
Daheim kotzt die Peruanerin erst mal an den nächsten Baum. Das schöne Frühstück. Kurz danach stehen wir vor ihrer Tür. Sie hat auch den Haustürschlüssel vergessen, und nun macht keiner auf. Wir klopfen wie die Wilden. Kein Mucks. Scheint niemand da. Vielleicht sind die beiden auch frühstücken? Ich versuch’s noch ein letztes Mal, dann regt sich was im Inneren. Die Tür geht auf, und Alex steht in Unterhosen vor uns mit einer Latte in der Hose.
Ich schiebe die Peruanerin an ihm vorbei in die Wohnung. Ihr geht’s jetzt echt dreckig, und sie braucht eigentlich nur ihr Bett und Ruhe – aber dort liegt die neue Freundin von Alex. Nackt.
Das Apartment sieht übel aus. Überall sind Sachen verstreut. Schubladen und der Schrank stehen offen. Was war passiert? Die Peruanerin macht es sich auf dem einzigen Stuhl im Apartment bequem und kann das Chaos nicht fassen, ist aber auch nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen.
Ich möchte nur noch weg. Was zum Henker ist hier passiert? Wer ist hier durchgedreht? Hat Alex die Fassung verloren und die Kleine vergewaltigt? Alex kommt langsam zu sich. Er stottert Worte ohne Zusammenhang. Ich verstehe: Verdammt, Problem, die Kleine, Gefickt, Irre, Brutal, Ärger. Langsam bekomme ich Panik. Ich will nur noch weg – mit Alex, doch der ist halbnackt. „Komm, zieh dich an“, befehle ich.
Peru kommt langsam wieder zu sich und ruft: „Und die Shorts, die du an hast, bleiben hier. Das sind die von meinem Ex.“
Im Bett regt sich auch langsam was. Die Freundin von Peru wacht auf und streichelt Alex langsam das Bein hoch. Gut, wenigstens keine Vergewaltigung, denke ich. Trotzdem. Wir müssen hier raus. Irgendwas ist schiefgelaufen, und ich muss meinen Freund retten. Wenn nicht vor dessen One-Night-Stand, dann vor Peru, denn die wird in Kürze explodieren, und dann möchte ich nicht mehr hier sein. Die Rothaarige vom Bett geht nun ein bisschen weiter hinauf an Alexes Bein, unter die Shorts. Alex geniesst es und will bleiben. „Hey! Zieh dich an, Mann. Los!“ Alex dagegen legt sich langsam wieder ins Bett. „Mann, wenn du in 10 Sekunden nicht angezogen vor mir stehst, dann gibt’s was auf die Fresse“, brülle ich wie ein Grenzschutz-Ausbilder.
Das zieht. Alex steht wieder auf. Peru schaut sich um, und ich fühle, wie die Wut in ihr steigt. Ihre Klamotten sind über den Boden verteilt. Ein kleines Regal ist umgefallen. Es sieht aus wie nach einem Kampf. Sie platzt gleich. Ich muss hier raus, mit oder ohne Alex. Der ist immer noch langsam wie ein Faultier, steht aber nun fast angezogen vor mir.
„Na los! Raus hier!“
„Mein Socken, ich finde meinen Socken nicht.“ Alex will danach suchen.
Ich greife mir seine Schuhe. Verabschiede mich mit Küsschen und einem „Sorry“ von Peru und ziehe Alex aus der Tür. Der folgt widerwillig und barfuß. „Mein Socken“, murmelt er. „Verdammt, ich kauf dir ein neues Paar“, antworte ich. „So teuer werden die wohl nicht gewesen sein.“
Was war passiert?
Im Taxi kommt Alex langsam zu sich und erzählt mir seine Geschichte. Draußen ist schon wieder geschäftiges Leben, und Manhattan zieht an uns vorbei. Seine neue Bekanntschaft war Russin, frisch geschieden und zu Besuch aus L.A. Schon in der Bar hatte sie die Initiative ergriffen und Alex geküsst. Kaum waren Peru und ich gegangen, wollte sie es wissen, aber Alex konnte das Kondom, das ich ihm vorher zugesteckt hatte, nicht finden. Also wurde im Apartment nach Kondomen gesucht. Wer nun dieses Chaos angerichtet hat, habe ich nie erfahren. Ich kenne Alex und denke nicht, dass er dafür verantwortlich war. Er ist Mr. Konservativ. Leider wurde kein Kondom gefunden, und als Alex die Sache dann beenden wollte, ging die Russin auf ihn los und holte sich, was sie wollte.
„Soll ich das glauben?“ Egal, ich werde wohl nie die Wahrheit erfahren. „Was?“, frage ich entsetzt. „Du hast ohne Kondom …?“
„Ja, verdammt, hab ich. Ich hatte keine Chance“, antwortet er.
„Mann, hast du schon mal was von AIDS und anderen Geschlechtskrankheiten gehört? Wir sind in New York!“
„Ja, Mist! Und so wie die rangegangen ist, das war ’ne echte Nymphomanin. Ich mach mir Sorgen“, stammelt Alex aufgeregt. Zurecht, aber vielleicht hatte sie einfach nur Nachholbedarf. „Jetzt ist’s eh zu spät. Komm runter. Mach halt in sechs Wochen einen Test, wenn du wieder zu Hause bist. Wollen wir mal hoffen, dass nichts passiert ist“, versuche ich ihn zu beruhigen.
Nach nur zwei Stunden Schlaf klingelt mein Wecker. Ich habe ein Geschäftstreffen und sehe nicht gut aus. Da helfen auch Augentropfen und mehrere Tassen Kaffee nichts. Nach dem Meeting gehe ich erschöpft ins Büro. Dort sitzen meine kubanischen Grafikerfreunde. Die beiden sehen mich mitleidig an und fragen, wie mein gestriger Abend war. Als ich die Geschichte erzähle, lachen sie nur und rufen in Stereo: „Raw Dog!“
„Was?“, frage ich.
„Das ist unter den Hip-Hoppern ein Begriff für Jungs, die aus Prinzip ohne Kondom ficken“, erklärt mir Lazaro im nachgemachten Streetslang eines „Hoodlums“ aus der Bronx.
Am Spätnachmittag gehe ich nach Hause und hole ich ein paar Stunden Schlaf nach, und als ich danach Alex aufwecke und mit ihm zum Dinner und anschließenden Drinks will, erteilt der mir eine Abfuhr. „Nee, lass mal. Ich hab genug vom New Yorker Nightlife gesehen. Ich will nur noch nach Hause und diesen Test machen. Ich mach mir echt Sorgen.“
Ja, denk ich mir. Wird schon gutgehen. Kannst jetzt eh nichts mehr daran ändern. Dann erkläre ich ihm, was ein „Raw Dog“ ist, und dass das ab jetzt sein Spitzname sein wird. „Den hat er sich redlich verdient, und ich werde die Geschichte allen unseren Freunden erzählen“, drohe ich ihm. Er verspricht mir im Gegenzug, nie wieder ohne Kondome aus dem Haus zu gehen.
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